Eindrücke von der LICTRA 2017 in Leipzig

Symbolbild Übersetzerkonferenz: ein Redner steht auf der Bühne und zeigt seine Präsentation auf einem großen Bildschirm
Auf Übersetzerkonferenzen werden aktuelle Forschungsergebnisse und Branchentrends diskutiert

Vom 12. bis 16. März 2017 fand in Leipzig der 10. Internationale Kongress zu Grundfragen der Translatologie statt. Die LICTRA 2017  beleuchtete dieses Mal aktuelle Entwicklungen und Tendenzen in der Sprachmittlerbranche unter dem Leitgedanken "Translation 4.0 – Translation im digitalen Zeitalter".

 

Unter dem Gesichtspunkt der vielen neuen Anwendungsbereiche von Internettechnologien und der sich damit verändernden Kommunikationsbedingungen gaben Vortragende aus aller Welt Einblicke in ihre Forschungsfelder.

Digitalisierung der Sprache

Herr Beat Siebenhaar, Dekan der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig, eröffnete die Tagung am Abend des 12. März feierlich und übergab im Anschluss das Wort an Carsten Sinner vom Institut für Angewandte Linguistik und Translatologie (IALT). Sinner zeigte in seiner kurzen Einführungsrede am Beispiel des "tragbaren Übersetzers"  Ili (s. Video), wie sich der Beruf des Sprachmittlers im Zeitalter von Industrie 4.0 wandelt, was Menschen über Übersetzungen denken und vor welchen Herausforderungen die Branche in Zukunft vor dem Hintergrund der Digitalisierung der Sprache stehen wird.

Der Eröffnungsvortrag - Shift happens

Der Eröffnungsvortrag von Peter A. Schmitt stand im Anschluss unter dem Motto "Shift happens" und verdeutlichte, dass es im Berufsalltag von Übersetzern und Dolmetschern im Laufe der Geschichte schon immer große Umwälzungen und Revolutionen gab. Er illustrierte dies am Beispiel technischer Errungenschaften (wie der Schreibmaschine in den 70ern oder dem Computer im darauffolgenden Jahrzehnt), die den Berufsalltag von Sprachmittlern fundamental verändert haben. Solche "Shifts" sind also keineswegs neu. Sie finden vielmehr ständig statt und die Branche muss immer wieder aufs Neue darauf reagieren.

Schmitt erwähnte auch aktuelle technische Entwicklungen. Neben dem bereits von Sinner genannten "tragbaren Übersetzer", ging er auch auf das Thema Spracherkennungssoftware (z. B. Dragon von Nuance) oder auf das "Translating Earpiece" namens Pilot ein. Für die Entwicklung und Verbesserung des letzteren Produkts hat Schmitt dem Unternehmen sogar selbst eine nicht unerhebliche Summe gespendet. Solche Technologien und Produkte versprechen eine "world without language barriers" (s. Video). Instant-Übersetzer oder Apps fürs Smartphone bieten heute allerdings noch keine ausreichend hohe Qualität, um sie etwa auch auf Konferenzen einsetzen zu können. Die Betonung liegt allerdings auf heute. Die technischen Entwicklungen sind rasant.

Ein weiteres großes Thema seines Vortrags war die zunehmende Verbreitung maschineller Übersetzungen, deren Qualität immer besser wird. Das Ziel der Anbieter von MT-Software, die "fully automated high quality machine translation" (FAHQMT), ist zwar auch heute noch nicht erreicht, aber die Lücke hinsichtlich der Qualitätsunterschiede zwischen Human-Übersetzern und der maschinellen Übersetzung schließt sich beständig. Es ist daher laut Schmitt falsch, anzunehmen, dass eine maschinelle Übersetzung immer schlecht und eine Übersetzung durch den Menschen immer gut ist.


Seine Ausführungen illustrierte er an einer Test-Übersetzung, die jeweils von ausgebildeten Übersetzern und MT-Software angefertigt wurde. Fünf von sieben Übersetzern sind bei diesem Test durchgefallen, da ihre Übersetzungen erhebliche Mängel aufwiesen. Einige automatische Übersetzungen waren dagegen von erstaunlich guter Qualität und übertrafen die Ergebnisse der Human-Übersetzer sogar. Für die Branche heißt das, schlechte Übersetzer müssen sich also durchaus vor MT-Software fürchten. Oder wie Schmitt es ausdrückte: "The machines are coming for your job."


Maschinen unterstützen oder ersetzen den Menschen zunehmend in allen Bereichen des Arbeitslebens. Auch Gebärdensprachdolmetscher erhalten erste Konkurrenz durch Roboter, z. B. durch den "Sign Language Robot" namens Aiko Chihira von Toshiba. Die Geschwindigkeit der Verdolmetschung und die ruckeligen Bewegungen lassen allerdings noch viel Raum für Verbesserungen offen (s. Video).

Gleichzeitig steigt der Bedarf an Übersetzungen weiter rasant an und die Globalisierung des Marktes bietet Chancen und Risiken für Übersetzer und Dolmetscher. Zwar können Sprachmittler heute praktisch überall arbeiten, doch die Preise für Übersetzungsdienstleistungen sind stark an die Lebenshaltungskosten vor Ort gekoppelt. Agenturen im Ausland, besonders in Schwellenländern, unterbieten sich angesichts des großen Konkurrenzdrucks regelmäßig gegenseitig. Übersetzer in Industrienationen können hier kaum mithalten.

 

Vor dem Hintergrund, dass der Markt für Übersetzungsdienstleistungen heute so stark fragmentiert ist wie nie zuvor, müssen sich Übersetzer daher neue Konzepte überlegen, um langfristig erfolgreich zu sein. Ein Weg, um seine Preise dauerhaft durchzusetzen, führt beispielsweise über die Spezialisierung auf bestimmte Bereiche, in denen dann ausschließlich Texte übersetzt werden.


Die Ausbildung der Übersetzer und Dolmetscher selbst muss aber auch an die sich ändernden Marktanforderungen angepasst werden. Ein zentrales Thema wird die voranschreitende Technologisierung des Berufs sein. Maschinelle Übersetzung und Post Editing müssen in Zukunft stärker in die Lehrpläne an Universitäten und Hochschulen integriert werden.

Drei Tage volles Programm

Neben Anforderungen an Ausbildungsinhalte und Einsichten in neue Technologien boten die Vorträge auf der LICTRA 2017 einen vielfältigen Einblick in die Arbeitswelt von Übersetzern und Dolmetschern auf der ganzen Welt. Das Tagungsprogramm war in neun Sektionen unterteilt: "Maschinelle Übersetzung und korpusbasierte Übersetzungswissenschaft", "Qualität und Evaluierung", "Sichtbarkeit, Barrierefreiheit, Ideologie, Identität", "Studium, Ausbildung, Anerkennung", "Bedeutungsrelationen", "Phraseologie und Variation in der fachlichen Translation", "Audiovisuelle Translation", "Dolmetschforschung" sowie in eine Sektion zu "Forschungsparadigmen, Perspektiven und Verschränkung von Ansätzen in der Translationswissenschaft". Ergänzt wurde das Programm durch zwei Workshops zu den Themen "Namen und Übersetzung" sowie "Leistungsevaluierung und Ranking von Zeitschriften im Bereich Translation". Bei der LICTRA 2017 war also für jeden Teilnehmer während der dreitägigen Vortragsreihe etwas dabei.

So gab beispielsweise Frau Ana L. Diaz-Lopez in ihrem Vortrag "Willkommen alle Fußballventilatoren – When translation goes wrong in the online media" spannende Einblicke in die Arbeitsweise von Online-Redaktionen. Da die Texte hier häufig von Journalisten und nicht von ausgebildeten Übersetzern in die Zielsprache übertragen werden, sind die Resultate oft mehr als bedenklich. Mit einigen Beispielen verdeutlichte Diaz-Lopez, wie solche Übersetzungsfehler auch zu diplomatischen Spannungen zwischen einzelnen Ländern führen können. Etwa wenn Aussagen von Politikern falsch verstanden und dadurch Bedeutungsinhalte im Zieltext gegenteilig wiedergegeben werden.

In ihrem Vortrag "The digital translators of tomorrow: An analysis of labour market needs and key competences" verdeutlichte Frau Špela Vintar, wie die "Datafication" und die Vernetzung von MT-Systemen mit Künstlicher Intelligenz den Berufsalltag des Übersetzers verändern werden. Übersetzer werden vom Ersteller einer Übersetzung zum Post-Editor bzw. zum Selektor von vorgenerierten Übersetzungseinheiten. Die geänderten Anforderungen an Übersetzer zeigen sich laut Vintar auch in den Berufsbezeichnungen, die heute eben nicht mehr klassisch "Übersetzer" lauten, sondern etwa "Junior Language Technician", "Multilingual Personalization Specialist" oder "Cross-language Data Consultant".

Johannes Härtel ging in seinem Vortrag "Dolmetschen 5.0 – Was fehlt zur vollständigen Automatisierung?" nicht nur auf die Frage ein, ob automatisches Dolmetschen überhaupt noch Dolmetschen im klassischen Sinne ist. Denn unter Dolmetschen verstehen wir ja die spontane Übertragung des gesprochenen Wortes in eine andere Sprache. Bei der maschinellen Verdolmetschung werden Aussagen hingegen zumindest virtuell schriftlich festgehalten.

 

Härtel beleuchtete anschließend ebenfalls verschiedene Merkmale der gesprochenen Sprache, die von derzeitigen Technologien noch nicht ausreichend gut erfasst werden können und eine vollautomatische maschinelle Verdolmetschung dadurch bisher unmöglich erscheinen lassen. Er ging beispielsweise auf den Aspekt von Pausen des Sprechers ein, etwa um nachzudenken, bei der die bisherigen Systeme an ihre Grenzen stoßen, da sie auf die Segmentierung von Sprachäußerungen angewiesen sind. Ähnliche Probleme entstehen immer dann, wenn der Sprecher einen Satz neu beginnt oder einzelne Wörter im Satz wiederholt.

 

Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Erfassung der gesprochenen Sprache ist die Prosodie. Die suprasegmentalen Merkmale des Sprechaktes (z. B. die Aussprache und Betonung bestimmter Wörter) können von heutigen Systemen jedoch noch nicht "gelesen" werden. Härtel gab hier als Beispiel das deutsche Wort "umfahren", welches je nach Betonung eine andere Bedeutung erhält (Ein Hindernis umfahren vs. Eine Person umfahren). Solche Feinheiten führen dann auch zu grammatischen Problemen bei der Verdolmetschung. In Variante eins ist das Verb aus dem Beispiel nicht trennbar, in der zweiten Variante dagegen schon.

 

Auch Emotionen während des Sprechens bereiten heutigen Systemen große Schwierigkeiten, da sie nicht erkannt werden und feine Bedeutungsnuancen so unter Umständen nicht korrekt verdolmetscht werden. Ein weiteres Problem stellt auch non-verbaler Input dar. Als Beispiel führte Härtel soziale Aspekte der menschlichen Kommunikation an, für die der Dolmetscher ein gewisses Weltwissen benötigt, um korrekt dolmetschen zu können (z. B. Anredeformen und Höflichkeitssprache im Japanischen, die von einer Vielzahl an Faktoren abhängen).

 

An seinen Vortrag schloss sich eine lebhafte Diskussion an. Der Tenor der Aussagen bestand darin, dass Dolmetscher sich den Entwicklungen im Bereich des vollautomatischen Dolmetschens nicht verschließen dürfen, um nicht abgehängt zu werden. Ein sinnvoller Einsatz der Systeme hängt von der Kommunikationssituation ab, bei der Risiken klar eingeschätzt werden können und dann für oder gegen eine automatische Verdolmetschung entschieden werden kann.

 

Solche Systeme könnten aber beispielsweise auch jetzt schon mit bisherigen Technologien gekoppelt werden, um Dolmetscher bei der Arbeit zu unterstützen. So könnten diese Systeme beispielsweise die vom Sprecher geäußerten Zahlen "lesen" und direkt auf dem Pult des Dolmetschers anzeigen, sodass dieser sie sich nicht notieren oder merken muss.

Der Schlussvortrag - ein Nekrolog auf den Beruf des Übersetzers?

In der ersten Hälfte ihres Schlussvortrags zeichnete Anne-Kathrin Schumann zunächst ein sehr deprimierendes Bild für die Zukunft der Sprachmittler. Sie zeigte, welche Gefahren und negativen Auswirkungen die Digitalisierung der Sprache für die Translation birgt. Wenn Übersetzer durch MT (maschinelle Übersetzung) und andere Technologien im neuen "Prozess" des Übersetzens zum bloßen Post-Editor degradiert werden, dann fragen sich Sprachprofis zu Recht: "Wo bleibt meine Expertise?"


Werden Übersetzer in Zukunft also zum "Zeilensklaven"? Schumann fordert eine aktive Auseinandersetzung der Wissenschaft mit den Auswirkungen der Technologisierung des Berufs, denn sie bietet auch Chancen. Sie sieht beispielsweise die Evaluation von maschinellen Übersetzungen als spannendes neues Forschungsfeld der Translatologie.

 

Neue Möglichkeiten im Rahmen der korpusbasierten Übersetzungswissenschaft bieten interessante Forschungsansätze zur Entwicklung von Übersetzungsstrategien und zur Bewertung von Übersetzungsvarianten. Denn Übersetzungsprobleme wird es auch in Zukunft geben. Und diese triggern bekanntlich besonders viele Übersetzungsvarianten.

 

In seinem Schlusswort ging Carsten Sinner noch einmal auf diesen Aspekt ein und warf eine ketzerische Frage auf. Müssen sich Unternehmen und Sprachdienstleister im Zeitalter der maschinellen Übersetzung und der Digitalisierung der Sprache dann wenigstens noch ein paar Human-Übersetzer "halten", um spezielle Probleme zu klären?

 

Für Sinner und alle Anwesenden steht am Ende der LICTRA 2017 jedoch fest, dass der Beruf des Übersetzers auch in Zukunft nicht verschwinden wird. Aber er wandelt sich – so wie er es im Laufe der Geschichte schon immer getan hat.


Ralph Smyreck, M. A. – Fachübersetzer

Wer schreibt hier? Mein Name ist Ralph Smyreck, ich bin freiberuflicher Fachübersetzer, Transkreativtexter und Lektor für die Sprachen Englisch, Dänisch, Französisch und Deutsch in Leipzig. Ich unterstütze Unternehmen, NGOs und Einzelkunden weltweit in Sachen interkultureller Kommunikation. In diesem Blog berichte ich über interessante Themen rund um den Arbeitsalltag eines Übersetzers. Gerne können Sie mich kontaktieren, wenn Sie Fragen zu meiner Person oder meinen Sprachdienstleistungen haben. Auch über Rückmeldungen und Themenvorschläge für meinen Übersetzer-Blog freue ich mich.



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